Bei diesem Punkt gibt es keine Einführungspräsentation. Das bekommen wir auch so hin.
Der Bildungsplan möchte von uns zwei Dinge: Ihr sollt die Entstehung von Parteien und die Struktur des Parteiensystems anhand eines Modells erklären (zum Beispiel Cleavage-Modell) und ihr sollt die Kritik am Einfluss der Parteien auf Staat und Gesellschaft erörtern (Besetzung von Ämtern, Einflussnahme auf die Medien).
Aber ihr kennt mich inzwischen gut genug. Bevor wir uns diesen beiden Punkten widmen, müssen wir zunächst etwas anderes klären. Und? Was meine ich wohl?
Wir müssen zuerst einmal wissen, was Parteien überhaupt sind, richtig?
Exakt.
Bekommen wir dazu ein Vi...
Unfassbar. Ihr seid einfach unfassbar. Aber wisst ihr was? Ja. Bekommt ihr. Damit ihr mir nicht weiter auf die Nerven geht. Für diejenigen unter euch, die sich aber etwas tiefer damit beschäftigen möchten: In diesem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung und in diesem von Planet Wissen könnt ihr euch informieren. Wie sich die deutschen Parteien entwickelt haben, könnt ihr hier nachlesen.
Wir sind gute Gemeinschaftskundeschüler*innen.
Mhmmmm... wie kommt ihr jetzt darauf?
Weil wir uns vorbildlich den Grundgesetzartikel rausgeschrieben haben.
Echt? Na dann lasst mal hören, welcher ist es denn?
Artikel 21 GG!!!
Sehr gut. Und was steht drin?
Ähm... irgendwas mit... also... innere Demokratie? Willensbildung? Sowas?
Nah genug für fünf Punkte, weit weg von zweistellig. Also, hier nochmal der Wortlaut des Artikels:
Dsa Bundesgesetz findet ihr hier. Keine Voraussetzung für ein gutes Abi, aber auch kein Fehler, es einmal zu überfliegen.
Dieser Artikel ist deswegen so relevant, weil er dem Staat die Möglichkeit bietet, Parteien auch zu verbieten. Aber nur, wenn sie die freitheitlich demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder beseitigen möchten, oder den Bestand der Bundesrepublik insgesamt gefährden.
Und wann genau ist das der Fall?
Tja, das ist eine spannende Frage und im Moment so relevant wie schon lange nicht mehr.
Stichwort AfD?
Ja. Stichwort AfD. Da wurden in den letzten Monaten die Rufe nach einem Verbotsverfahren lauter. Im Oktober 2023 hat außerdem ein CDU-Abgeordneter angekündigt, ein solches Verbotsverfahren beantragen zu wollen. Der Bildungsplan spart diese Diskussion allerdings aus. Da das Thema aber eigentlich total spannend ist und man viel über den Parteienstaat Deutschland und sein System lernen kann, hier ein paar Quellen:
Dieser Podcast von der Zeit ist ein guter Start. In ihm kommt Gertrude Lübbe-Wolffzu Wort, die zwölf Jahre Richterin am Bundesverfassungsgericht war. Eine Analyse des Deutschen Instituts für Menschenrechte kam im Sommer 2023 zu dem Schluss, dass ein AfD-Verbot möglich sei. Dies nimmt Guilia Carbonaro von Euronews in ihrem Artikel zum Anlass, der Frage nachzugehen, ob ein solches Verbot überhaupt sinnvoll sei. Einer der prominentesten journalistischen Fürsprecher für ein solches Verbot ist Heribert Prantl, der Chefredakteur der Süddeutschen. Hier erklärt er, warum er dieser Meinung ist. Philip Eppelsheim kommt in der FAZ zu einem gänzlich anderen Urteil und sähe ein solches Verbot sogar als "fatales Signal". Und weil ein pro und con immer gut ist, hier noch beide Seiten im Tagesspiegel.
So. Jetzt aber. Nun können wir uns dem Bildungsplan zuwenden. Und der möchte, dass ihr die Entstehung von Parteien und die Struktur des Parteiensystems anhand eines Modells erklären könnt. Dabei gibt es uns "zum Beispiel" das Cleavage-Modell vor.
Gibt's denn noch andere Modelle?
Ehrlich gesagt.... nicht so wirklich. Es gibt noch die krude Einteilung in links und rechts, aber das ist für die Analyse fast nicht zu gebrauchen, weil schwer zu definieren. Es gibt also keines, das genauso einflussreich wie das Cleavage Modell ist. Wir konzentrieren uns deswegen völlig darauf. Los geht's. Was bedeutet denn Cleavage? Wisst ihr nicht? Dann googelt mal.
Ähmm Herr Lauber.... also... wir dachten, hier geht's um Politik... aber....
Tzzzzzz, ich vergesse immer, dass ich es mit Teenagern zu tun habe. Ihr sollt natürlich die deutsche ÜBERSETZUNG googeln und keine Bildersuche machen!
Achso. Puh. Das war uns jetzt schon ein wenig unangenehm. Also, das heißt so viel wie "Spalt" oder "Spaltung"! Ahhhhh, deswegen auch im anderen Kontext...
Konzentriert euch auf den Ernst der Politik. Ja, das heißt Spaltung. In diesem Fall "Spaltung der Gesellschaft". Ganz einfach heruntergebrochen sagt das Cleavage Modell aus, dass es in jeder Gesellschaft Konfliktlinien gibt, entlang derer sich politische Gruppierungen bilden, die irgendwann entweder von bestehenden politischen Parteien integriert werden, oder durch neue politische Parteien aufgenommen werden.
Aber es gibt doch unglaublich viele Konflikte in einer Gesellschaft! Da bildet sich doch nicht jedes Mal eine neue Partei, oder?
Gut erkannt. Deswegen geht es dabei auch nicht um Konflikte an sich, sondern um grundlegende Konfliktlinien. Diese Überlegung geht zurück auf Lipset und Rokkan, die die Cleavage Theorie in den späten 60ern veröffentlicht haben. "Zu diesem Zweck beschreiben die Autoren die historischen und gesellschaftlichen Ursprünge, die zur Entstehung entsprechender Konfliktlinien beigetragen haben. So benennen sie die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie, Staat und Kirche, Land und Stadt sowie Kapital und Arbeit als ursächlich für die Ausdifferenzierung westeuropäischer Parteiensysteme. Während die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie sowie Staat und Kirche als direkte Produkte der nationalen Revolution verstanden werden, handelt es sich bei den Konflikten zwischen Land und Stadt sowie Kapital und Arbeit um Folgen der industriellen Revolution". (Quelle - auch, um in die Tiefe zu gehen)
Das ganze wird ein bisschen einfacher, wenn man es sich als Schaubild vor Augen führt (klickt auf das Plus für eine Erklärung der jeweiligen Cleavages)
Vertreten die Parteien eine der Seiten einer Konfliktlinie, entwickelt sich daraus eine gewisse Stammwählerschaft dieser Partei. In Deutschland war die SPD lange die "Arbeiterpartei" und auf der anderen Seite stand die CDU als Vertreterin des "Kapitals". Auch bei der Konfliktlinie Staat vs. Kirche ließen sich diese beiden Parteien deutlich zuordnen.
Ahhh und deswegen waren sie auch Volksparteien mit einer großen Stammwählerschaft. Aber das hat sich in den letzten Jahrzehnten doch ziemlich aufgelöst.
Genau. Dieses Modell genügt in seiner Reinform nicht mehr, um die heutige Parteienlandschaft in Deutschland erklären zu können. Es bietet auch wenig Ansätze, Protestwähler und Wechselwähler zu erklären. Schauen wir uns also mal an, welche neuen Parteien in Deutschland in den letzten dreißig Jahren entstanden sind, die auch einen bleibenden Einfluss auf die Politik hatten.
Das wären wohl die Grünen, die Linken und die AfD, oder?
So ist es. Spekuliert mal, welche Konfliktlinien die Entstehung dieser Parteien begünstigt hat?
Also bei den Grünen ist das einfach. Das ist die Umweltproblematik. Bei der AfD ist es auch nicht so schwer. Das ist das Thema Einwanderung. Und bei den Linken.... nun.... definitiv Arbeit vs. Kapital, aber ähm... vielleicht auch noch Ost-West?
Das ist als Erklärungsansatz schon mal nicht schlecht. Aber fällt euch jetzt was auf?
Hmmm das passt nicht wirklich zu den vier ursprünglichen Konfliktlinien.
Genau. Bei diesen "neuen" Konfliktlinien handelt es sich inzwischen oft um Konfliktlinien entlag von "Werten". Man spricht deswegen auch von "post-materialistischen Konfliktlinien" (z.B.: in dieser Analyse zum Wahlverhalten. Das ist an anderer Stelle im Bildungsplan auch nochmal wichtig). Frank Decker hat in diesem Beitrag für APuZ das ursprüngliche Modell deswegen erweitert und kommt zu unten stehendem Konfliktlinienmodell.
Er schreibt dazu, dass "das Konfliktlinienmodell der heutigen Parteiensysteme an die horizontale Achse des Schemas von Rokkan [anknüpft], die in der funktionalen Dimension zwischen ökonomischen, also verteilungsbezogenen, und kulturellen, also wertebezogenen Konflikten unterscheidet. Im Rahmen des sozioökonomischen Verteilungskonflikts stehen sich die Grundpositionen der Marktfreiheit und der sozialen Gerechtigkeit als Pole gegenüber. Die eine Position sieht die Verteilungsergebnisse des Marktes im Prinzip als gerecht an, sofern sie nach bestimmten, staatlich gewährleisteten Grundregeln zustande kommen. Die andere Position betrachtet die Marktergebnisse als ungerecht und möchte sie durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungspolitik im Sinne einer größeren sozialen Gleichheit korrigieren. Die zweite Achse repräsentiert den soziokulturellen Wertekonflikt. Hier stehen auf der einen Seite liberale/libertäre Haltungen wie Toleranz, nonkonformistisches Denken, Kosmopolitismus und Multikulturalität, auf der anderen Seite konservative/autoritäre Haltungen wie Ordnungsdenken, Festhalten an konventionellen Lebensformen, übertriebener Nationalstolz beziehungsweise Chauvinismus und Minderheitenfeindlichkeit." (Quelle)
Dieser Ansatz bietet erheblich mehr Erkärungsgehalt für die heutige Parteienlandschaft, als es das ursprüngliche Schema tut.
Zum Abschluss sei euch noch diese Analyse wärmstens ans Herz gelegt. In ihr beschäftigt sich Daniel Keil mit der These, dass der Aufstieg der Rechten in Deutschland und Europe vor allem mit der ständigen "Wut-Mobilisierung" zu tun hat. Spannend ist das vor allem in Verbindung mit der Cleavage-Theorie.
Dieser Teil des Bildungsplans ist eigentlich selbsterklärend. Deswegen nur ein paar Literaturempfehlungen:
In diesem Essay geht es um Antiparlamentarismus in ganz Europa. Dieses Dossier der BpB nimmt Parteien in Deutschland noch einmal generell in den Fokus (inklusive Kritik). Und hier wird anhand zweier Beispiele beleuchtet, welchen Einfluss Populismus auf die Parteienund das System hat. Ihr wollt mehr wissen? Fragt eure Gemeinschaftskundelehrkraft des Vertrauens ;)